
Teil 2 | Organspende 2.0 – die Widerspruchslösung soll kommen
Nachteile der Widerspruchslösung?
Viele empfinden Unbehagen, wenn sie sich dem drohenden Zwang einer Organspende ausgesetzt sehen. Ist es die Vorstellung, nach dem Tod „aufgeschnitten“ zu werden? Dass man trotz des diagnostizierten Hirntods doch nicht ganz tot ist?
Die Widerspruchslösung wird in Politik und Gesellschaft heftig debattiert. Kritische Stimmen wurden und werden laut, die sich gegen diesen Lösungsansatz richten.
Die Parteivorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, sieht den Wegfall der Freiwilligkeit als Gefahr: „Ich habe große Befürchtungen nach Gesprächen mit Betroffenen, dem Ethikrat und den Debatten im Bundestag, dass durch diesen Zwang, den der Staat hier ausübt, eine Abwehrhaltung erfolgt.“
Ein weiteres Argument der Kritiker sind die in Deutschland geltenden Grundrechte.
Hat nicht jeder deutsche Bundesbürger das Recht auf körperliche Unversehrtheit – auch nach dem Tod?
Wird meine Freiheit nicht dadurch beschnitten, dass ich mich aktiv gegen einen postmortalen Eingriff aussprechen muss?
Gibt es eine Alternative zur Widerspruchslösung?
Ja. Es gibt einen Gegengesetzesentwurf, der ebenfalls im Bundestag vorgestellt wird. Der Tenor: die zutiefst persönliche Entscheidung, seine Organe nach dem Tod zu spenden, muss freiwillig und ohne jeden Zwang erhalten bleiben.
Die Verfasserinnen und Verfasser werben darin für regelmäßige Befragungen der Bürger, in denen sie mit der Thematik konfrontiert werden. Zudem soll es ein bundesweites Onlineregister geben, in dem man sich schnell, einfach und freiwillig als Spender registrieren lassen kann. Zudem sollen Patienten von Hausärzten regelmäßig auf Organspende hingewiesen werden.
Vorteile der Widerspruchslösung
Die Widerspruchslösung ist kein ungetestetes Pilotprojekt, sondern eine Praktik, die bereits in etlichen Ländern, erfolgreich, angewandt wird. Beispielsweise in Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Österreich, Polen, Portugal, der Slowakei, Türkei, Slowenien und Spanien.
Studien zeigen, dass es in diesen Ländern dadurch 20-30% mehr Spender gibt.
Ein weiterer wichtiger Fakt, den man sich bei der Bewertung der Widerspruchslösung vor Augen halten sollte: Die Organspende ist nach wie vor freiwillig. Jeder hat weiterhin die Wahl, sich dafür oder dagegen zu entscheiden.
Was sich ändert ist, dass eine Reaktion auf diese Frage eingefordert wird. Ein überschaubarer Aufwand, oder nicht?
Außerdem ist die Widerspruchslösung ein Gesetz mit doppeltem Boden. Wer sich zu Lebzeiten weder dafür noch dagegen ausspricht, überlässt die Entscheidung seinen Angehörigen, die wohl im Sinne des Betroffenen urteilen.
Eine Entscheidung ist zudem nicht in Stein gemeißelt.
Bei Unsicherheit spricht nichts dagegen, zu widersprechen. Sollte sich die Meinung ändern, kann das zu jedem Zeitpunkt kundgetan werden.
Dem Argument der beschnittenen Freiheit kann entgegengesetzt werden:
Bedeutet Freiheit automatisch eine Befreiung von jeglicher Verantwortung?
Die Chance auf Mit- und Selbstbestimmung
Durch eine Entscheidung übernehme ich Verantwortung für mich selbst wie auch für die Gesellschaft, in der ich lebe.
Sollte der „Zwang“ nicht viel mehr als Chance gesehen werden, sich mit einer Situation zu beschäftigen, der ich selbst einmal ausgesetzt sein könnte?
Zu guter Letzt:
Ist die Vorstellung nicht erstrebenswert, jemand anderem das Leben zu retten?
Widerspruchslösung als Allheilmittel?
Einer Illusion darf man sich bei allem Für und Wider nicht hingeben. Und zwar der, dass die Widerspruchslösung das Organspendeproblem löst.
Sie ist nur ein Rädchen in einem viel größeren System.
Das Prozedere einer Transplantation ist organisatorisch anspruchsvoll, zeitaufwändig und kostenintensiv.
„Das Hauptproblem bei der Organspende ist nicht die Spendebereitschaft. Ein entscheidender Schlüssel liegt vielmehr bei den Kliniken. Ihnen fehlen häufig Zeit und Geld, um mögliche Organspender zu identifizieren. Da setzen wir jetzt ganz konkret an“, betonte Jens Spahn unlängst.
In diesem Zuge sollen Organspende-Operationen für Kliniken besser vergütet, die Stellung der Transplantationsbeauftragten gestärkt, ein flächendeckender neurochirurgischer und neurologischer Rufbereitschaftsdienst eingeführt und die Angehörigen besser beraten und betreut werden.
Wie sieht ein gut funktionierendes Organspende System aus?
Ein Vorbild und Vorreiter in Sachen Organspende ist Spanien.
Obwohl das Land nur halb so viele Einwohner wie Deutschland hat, wurden dort im vorigen Jahr 1851 Spender gezählt. Die Anzahl transplantierter Organe: 4769. Ein Höchstwert in Europa.
Die Widerspruchslösung ist dabei ein entscheidender Beitrag in einem gut funktionierenden System.
Die Klinikstrukturen sind organspendefreundlich: Es gibt weniger Kliniken, die Organspende-Operationen durchführen. Allerdings identifizieren diese potenzielle Spender schneller, besser und verfügen generell über mehr Erfahrung in den Abläufen: Jede der teilnehmenden Klinik handelt so nach einem Aktionsplan, der dabei hilft, alle Patienten ausfindig zu machen, die für eine Organspende infrage kommen. Zusätzlich gibt es eigens gegründete Transplantationsteams. Die Transplantationsbeauftragten sind gut ausgebildete Intensivmediziner, die extra dafür freigestellt werden. Während sich in Deutschland viele Klinikmitarbeiter schwer damit tun, Angehörige auf eine mögliche Organspende anzusprechen, gehen die Südeuropäer viel offener und speziell geschult mit dieser Thematik um.

Quellen:
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-09/widerspruchsloesung-jens-spahn-organspende-neuregelung
https://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/organspende/article/975068/bundeskabinett-neuregelungen-organspende-besiegelt.html
https://www.zeit.de/politik/2019-04/organspende-gesetzentwurf-widerspruchsloesung-aerztepraesident-unterstuetzung
https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/organspende-in-deutschland-ploetzlich-geht-es-voran-kommentar-a-1260662.html
https://www.tagesspiegel.de/politik/widersprechen-oder-zustimmen-was-man-zur-organspende-wissen-sollte/24191246.html
https://www.organspende-info.de/organspende/ablauf/klaerung-voraussetzungen.html
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2019-04/widerspruchsloesung-organspende-aengste-umfrage
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/organspenden-in-spanien-ein-herz-fuer-den-naechsten/12842284.html
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